#bdk15, Hebammen

Nach der BDK: Eine kurze Antwort auf die Vorwürfe der Antragsteller_innen

Am Samstag wurde auf der BDK in Halle der Antrag V-08-NEU zur Hebammenversorgung abgelehnt. Für meine Gegenrede wurde ich von den Antragsteller_innen kritisiert, beispielhaft dafür steht der folgende Kommentar in diesem Blog:

Liebe Paula, diese Argumentation hier bezieht sich eben grad auf nicht mehr relevante bzw. geänderte Zitate in V 08 neu. Insbesondere V16 ist komplett weg einschließlich der Begründung. V 08 neu bildet den Sachstand der Bundestagsfraktion (Büro Scharfenberg) ab. Das Grundproblem ist, dass wir z.T. aneinander vorbei reden, bzw. die Logikkette unterschiedlich ist. Die geschädigten sollen auf keinen Fall weniger bekommen, ich hab immer für Patientenrechte gesprochen. Die gestiegenen Prämien sind ja nicht wegen mehr Fehlern sondern wegen besserer Überlebenschancen und damit von wenigen Einzelfällen, die dann Millionen kosten.
Wenn ich das hier vorher gekannt hätte, wäre es fairer gewesen. Dann hätte ich vorher mit dir gesprochen und den Antrag mit dir konsensfähig gemacht. Nun ist ein Beschissenes Signal entstanden auch für deine Hebammenschwester. Übrigens betrifft es auch alle Beleghebammen in Kliniken nicht nur die Außerklinische Geburtshilfe. Auch da gibt es wissenschaftlich abgesicherte Qualitätsstandards.
Gruß Dr. Inés Brock

Hier meine kurze Entgegnung auf diese Vorwürfe:

1. Bereits am Samstag hast du mehrmals geäußert, dass ich den zusammengefügten Antrag V-08-NEU nicht kennen würde, und wie bereits am Samstag kann ich dir sagen, dass dies nicht der Fall ist. Auch kannte ich die Änderungsanträge des Bundesvorstands. Darüber hinaus bezieht sich der ursprüngliche Blogtext ganz explizit auf die Ausgangsanträge.
2. Wir reden nicht aneinander vorbei, wir haben unterschiedliche Meinungen.
3. Es kann sein, dass du immer für Patient_innenrechte gesprochen hast, aber eben an keiner Stelle im Antrag und auch an keiner Stelle in der Antragseinbringung am Samstag.
4. Die gestiegenen Haftpflicht-Prämien sind nur teilweise auf gestiegene Schadenssummen zurückzuführen, sondern v.a. auch auf Umstrukturierungen in den Versicherungsunternehmen (siehe auch hier). Ich habe nicht behauptet, dass die gestiegenen Prämien auf eine größere Anzahl von Kunstfehlern zurückzuführen seien, ich habe nur gesagt, dass es immer noch zu viele Kunstfehler in der Geburtshilfe gibt und wir als gesamte Gesellschaft daran arbeiten sollten, diese zu reduzieren.
5. Ich möchte nicht deine Wortwahl reproduzieren, aber ich hätte es als fatales Signal an die Gesamtheit der denkenden Menschen empfunden, wenn ein Antrag beschlossen worden wäre, der nicht einmal die aktuelle Situation des Problems kennt, das er beschreiben möchte. Da hätte ich auch mehr erwartet von Grünen, die sich seit langer Zeit mit dem Thema beschäftigen.
6. Meiner Hebammenschwester ist es ziemlich egal, was Grüne beschließen;)
7. Genau weil ich weiß, dass alle freiberuflichen Hebammen gleich betroffen sind, habe ich auch nie etwas anderes behauptet;)

Nochmal zu eurer wiederholten Aussage, der Antrag V-08-NEU sei so deutlich besser gewesen: Das ist mitnichten der Fall. Er schildert weiterhin nicht den Status Quo der Hebammenhaftpflichtversicherung, behauptet weiterhin, dass die Haftpflichtprämien sinken müssten, dass der Anteil der Risikoschwangerschaften nur auf zusätzliche ärztliche Diagnostik zurückzuführen sei, dass es nicht ausreichend Hebammen für Vor- und Nachsorge gäbe etc. etc.
In der Summe war er in meinen Augen inhaltlich ähnlich wenig haltbar wie die Ausgangsanträge.

Ich zumindest bin froh, dass es jetzt die Möglichkeit gibt, einen neuen Antrag zu schreiben, der eventuell sogar den weiteren Blick wagt hin zur Haftpflichtproblematik im Gesundheitswesen ganz allgemein und zur Notwendigkeit einer versorgungswissenschaftlich besser abgesicherten Geburtshilfe.

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#bdk15, Ambulante Versorgung, GRÜN, Hebammen

Die Hebammenanträge zur BDK 2015: Ich habe Bauchschmerzen

Gleich zwei Anträge zur Situation von Hebammen und Geburtshelfern liegen den Delegierten der BDK 2015 am kommenden Wochenende zur Abstimmung vor. Ich habe beide jetzt viele Male gelesen, aber meine massiven Bauchschmerzen angesichts dieser Anträge sind geblieben.

Beiden ist gemein, dass sie sich nahezu ausschließlich einer wenig komplexen, skizzenhaften Problembeschreibung widmen, jedoch auf deutlich niedrigerem und unbefriedigenderem Niveau als jeder Medienbeitrag, der in den vergangenen Jahren zum Thema erschienen ist. Die Anträge verpassen es nicht nur, das Problem in den größeren Kontext der gestärkten Patient_innenrechte und der veränderten Situation der Versicherungen einzuordnen, sondern sie blenden auch die Perspektive der von Hebammen-Kunstfehlern betroffenen Eltern und Kinder vollständig aus. Das aber ist fatal:

Die Grünen waren immer eine Partei der Patient_innenrechte. Wir haben gemeinsam mit vielen anderen Akteur_innen in dieser Gesellschaft darum gekämpft, dass Betroffene von medizinischen Kunstfehlern endlich gerechter und einfacher entschädigt werden. Wir stehen ein für den Grundsatz: Wer behandelt, der haftet. Wenn jetzt beide vorliegenden Anträge eine Deckelung bzw. eine Abschaffung der Kunstfehler-Haftung durch die Hebammen fordern, dann werden diese mühsam erkämpften Rechte den Geschädigten wieder entrissen.

Darüber hinaus ist es auch rechtlich nicht haltbar, denn mit fehlender Haftbarkeit für Behandlungsfehler wären Hebammen und Geburtshelfer deutlich besser gestellt als beispielsweise freiberufliche Frauenärzt_innen und Humangenetiker_innen, die ebenfalls sehr teure Haftpflichtversicherungen zahlen müssen, eine freiberufliche Frauenärztin beispielsweise bis 40 000 Euro im Jahr. Hebammen und Geburtshelfer wären auch besser gestellt als die Kliniken, die sich ebenfalls mit jährlich steigenden Haftpflichtpolicen absichern müssen. Fiele der Haftungsgrundsatz für die Hebammen, dann würden auch alle anderen Leistungserbringer_innen im Gesundheitswesen dies für sich einfordern – die Bundesärztekammer hat genau das bereits angekündigt und handelt damit logisch.

Ein solches Aushöhlen der Haftung für Kunstfehler im Gesundheitswesen hätte dramatische Folgen für die Versorgung: Die Haftung für Kunstfehler ist ein wichtiger Pfeiler für mehr Qualität im Gesundheitswesen: Wer möchte sich ein Gesundheitssystem vorstellen, in dem niemand mehr für seine Behandlungsfehler haften muss? Schon der Abschluss einer medizinischen Haftpflichtversicherung bedeutet teilweise massive Investitionen in Qualität, denn die Versicherungsunternehmen fordern in ihren Policen die Einhaltung und Etablierung wichtiger Qualitätsstandards.

Wer behandelt, der haftet

Deswegen kann es nicht das grüne Ziel sein, dass die Hebammen nur weiter überleben können, wenn wir die Betroffenen von Kunstfehlern ihrer Rechte berauben. Es kann nicht die Lösung sein, dass im Gesundheitssystem niemand mehr für seine Fehler haften muss.

Was aber wäre eine sinnvolle Lösung? Wo liegen die eigentlichen Probleme?
Einerseits verdienen die Hebammen zu wenig, ihre Vergütung sollte deutlich steigen – genau das aber kann nicht politisch entschieden werden, sondern müssen die Hebammen mit den Krankenkassen verhandeln. Andererseits sind die Haftpflichtprämien primär deswegen so hoch, weil auch im 21. Jahrhundert noch unerträglich viele Kunstfehler vor, während und nach der Geburt passieren: Unser Ziel als Gesellschaft sollte es sein, dass wir gemeinsam mit den Hebammen, den Forschenden und dem gesamten Gesundheitssystem z.B. die Hausgeburt so sicher machen, dass die Haftpflichtprämien mit Recht deutlich niedriger ausgestaltet werden können. Ein möglicher Weg dorthin könnte eine solidarischere Berufshaftpflichtversicherung sein, die die Haftpflichtprämien gleichmäßiger auf alle Gesundheitsberufe verteilt.

Wer einfach nur die Haftung der Leistungserbringer_innen im Gesundheitssystem aushöhlen und abschaffen will, der ist blind für das  große Leid, das Geburtsschäden, egal ob von Hebammen, Geburtshelfern oder ärztlichem Personal verursacht, noch immer vielen einzelnen Menschen in dieser Gesellschaft zufügen und sie damit in ihrer Selbstständigkeit, Gesundheit und Selbstverwirklichung für ein gesamtes Leben massiv einschränken. Das können wir Grüne nicht mit unserem jahrzehntelangen Kampf für mehr Patient_innenrechte vereinbaren. Deswegen bitte ich euch, beide Anträge abzulehnen.

Und hier noch einmal ein Faktencheck der zentralen Äußerungen in beiden Anträgen:

V-08

Z. 8f. “Die Kaiserschnittrate in Deutschland ist mit 33,2% so hoch wie noch nie und ca. zur Hälfte kaum medizinisch zu rechtfertigen. (WHO-Richtwert 15%)”

Diese WHO-Angabe stammt aus dem Jahr 1985 und ist damit 30 Jahre alt (World Health Organization. Appropriate technology for birth. Lancet 1985; 2 (8452): 436-7 ). Abgesehen davon ist es aber natürlich auffällig, dass zwischen den Jahren 2000 und 2010 die Kaiserschnittraten in Deutschland im Schnitt von knapp 20% auf circa 30% anstiegen, bei sehr großen regionalen Unterschieden. Während die Verfügbarkeit einer Hebamme nur einen sehr geringen Einfluss auf diese Zahlen zeigte, liegt der Hauptteil der zusätzlichen Kaiserschnitte aktuell in Situationen vor, in denen die ärztlichen Leitlinien keine klaren Empfehlungen geben, beispielsweise bei Beckenendlage des Kindes. In solchen Abwägungsprozessen mag einerseits hineinspielen, dass Ärzt_innen zunehmend risikoscheuer arbeiten, zum anderen vermag ggf. die deutlich unterschiedliche Vergütung zwischen vaginaler Geburt und Kaiserschnitt in manchen Kliniken die Entscheidung ebenso zu beeinflussen wie die bessere Planbarkeit von Kaiserschnitten im Betriebsabslauf der Kreißsäle.
Damit ist die Behauptung, die “Hälfte der medizinischen Kaiserschnitte sei kaum medizinische zu rechtfertigen” sehr gewagt: Richtiger könnte man formulieren: Zu einem Großteil der Kaiserschnitte entscheidet man sich in einem medizinischen Graubereich, in dem nicht abschließend geklärt ist, welches Verfahren langfristig günstiger ist. Aus diesem Grund braucht es mehr Versorgungsforschung zur Sinnhaftigkeit von Kaiserschnitten in diesen Spezialsituationen – genau das fordert übrigens auch die Bertelsmann-Studie, die von den Antragsteller_innen häufig zitiert wird.

Z. 12f. “Viele schwangere Frauen finden keine Hebamme mehr, die sie persönlich vor, während und nach der Geburt betreuen kann.”

Für große Teile Deutschlands trifft dieser Satz überhaupt nicht zu. Selbst in Regionen mit nur wenigen Hebammen und Geburtshelfern für Hausgeburten stehen jeweils zahlreiche Hebammen für die sogenannte Vor- und Nachsorge zur Verfügung: Dies liegt daran, dass Vor- und Nachsorge deutlich weniger risikobehaftet sind und damit für reine Vor- und Nachsorge die Haftpflichtprämien deutlich niedriger ausfallen. Aus diesem Grund sind viele Hebammen freiberuflich ausschließlich in Vor- und Nachsorge tätig. Der dargestellte Mangel gilt also lediglich für einige Regionen Deutschlands, und auch dort nur für freiberufliche Hebammen, die die Geburt an sich selbst betreuen. Auch an Hebammen in Kliniken besteht kein Mangel, denn deren Berufshaftpflicht wird von den Klinikversicherungen mit abgedeckt.

Z. 14 f. “Es gibt zudem zu viele ärztliche Untersuchungen in der Schwangerschaft (Studie Bertelsmann-Stiftung 2015), die u.a. dazu führen, dass fast 80% aller Schwangeren als Risikopatientinnen behandelt werden.”

Wann ist eine Schwangerschaft eine Risikoschwangerschaft? Z.B., wenn die Schwangere älter als 35 ist. Oder trotz Schwangerschaft raucht. Oder eine relevante Erkrankung bei Mutter oder Kind entdeckt wird. Damit sind die hier kritisierten “Untersuchungen” nur teilweise für den hohen Anteil der Risikoschwangerschaften verantwortlich.

V-16

Aus der Begründung des Antrags V-16: “Dagegen beträgt die entsprechende Versicherungsprämie für Angehörige anderer Medizinberufe, z. B. Ärztinnen und Ärzte nur ein Bruchteil dieses Betrages.”

Wie bereits oben dargestellt kann dies einfach widerlegt werden: Beispielsweise zahlen freiberufliche Frauenärzt_innen jährliche Prämien von ca. 20 000 – 40 000 Euro und liegen damit deutlich über den knapp 6300 Euro der Hebammen und Geburtshelfer pro Jahr.

Ebenfalls aus der Begründung V-16: “Darüber hinaus möchten die Krankenkassen Ausschlusskriterien für Hausgeburten und Geburten in Geburtshäusern festlegen. Dies entmündigt schwangere Frauen und reglementiert die Hebammen in ihrer Berufsausübung.”

Natürlich schränken Regeln ein. Aber Regeln sind wichtig, gerade auch im Gesundheitswesen. Genauso wie es wichtig ist, dass Kardiologen nicht Herzklappen mal eben ambulant einsetzen dürfen, ohne eine Notfallversorgung garantieren zu können, genauso wichtig ist es, dass festgelegt wird, wann eine Geburt besser nicht zu Hause durchgeführt werden sollte. Hier wird so getan, als seien die Regeln an sich das Problem. Vielmehr muss es intelligente, faire Regeln geben – für die Hausgeburten genauso wie für alle anderen Bereiche im Gesundheitswesen.

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BÄK, Bioethik, Bundestagsfraktion, GRÜN

Sterbehilfe: Ein Brief Katrin Göring-Eckardts stellt die Gewissensfreiheit der Abgeordneten infrage

Seit etwas mehr als einem Jahr diskutieren die deutsche Öffentlichkeit und der Bundestag über die Hilfe zum Suizid in unserer Gesellschaft. An diesem Freitag werden die Abgeordneten über die Entwürfe zur Verschärfung oder Liberalisierung der Suizidassistenz abstimmen (eine gute Übersicht über die einzelnen Anträge finden Sie hier). Gemäß bewährter Praxis ist für diese bioethische Entscheidung der Fraktionszwang aufgehoben: Die Parlamentarier_innen können frei, allein von ihrem Gewissen geleitet abstimmen. Eigentlich.

Einige fragen sich nun jedoch, ob das tatsächlich auch in dieser Debatte gilt:
Am Dienstag haben KGE, Thomas Oppermann und Volker Kauder als Fraktionsvorsitzende einen Brief an alle MdB verschickt, in welchem sie ausdrücklich um Unterstützung für den Antrag Griese/Brand werben. Dieser ist der zweit-konservativste, der den Parlamentarier_innen am Freitag vorgelegt wird: Er möchte die aktuelle Rechtslage zum assistierten Suizid verschärfen, indem er sie in das Strafgesetzbuch aufnimmt.
Thomas Oppermann verteidigt sich damit, dass die Fraktionsvorsitzenden einfach nur ihr “politisches Gewicht” in die Debatte werfen würden. Aber genau darum soll es in bioethischen Debatten eben aus guten Gründen nicht gehen. Das Gewicht, auf das er sich beruft, es existiert nur in Fragen der Fraktionslogik, es ist Produkt der Parlamentsmechanik. Bioethische Fragen aber sollen losgelöst von dieser Logik entschieden werden, sollen mit dem Gewissen jeder einzelnen Parlamentarierin vereinbar sein.

Aus diesem Grund ist dieser Brief nicht nur “unfair”, wie es Tobias Schulze ausdrückte, ein Mitarbeiter von Petra Sitte. Er ist vielmehr hochgradig unglücklich. Er legt den Verdacht nahe, dass die Autor_innen den Fraktionszwang über die Hintertür und inklusive seiner bekannten Sanktionsmechanismen teilweise durchsetzen wollen. Er behindert damit die Abgeordneten im Ausdruck ihres eigenen Gewissens.

Wenn die Autor_innen dies nicht bedacht haben, dann sollten sie diesen Brief zurücknehmen. Wenn doch, dann müssen sie erklären, warum die Frage des assistierten Suizids, anders z.B. als Präimplantationsdiagnostik, plötzlich derartiger Interventionen von Fraktionsspitzen der ganz-ganz-großen Koalition bedarf.

Darüber hinaus ist der Entwurf von Griese/Brand selbst aber auch in vielen Punkten angreifbar bis höchst fragwürdig:

1 Der Gesetzentwurf formuliert nicht eindeutig, was genau strafbar werden soll, verstößt damit gegen das Bestimmtheitsgebot des Grundgesetzes und würde wahrscheinlich binnen sehr kurzer Zeit vor dem Bundesverfassungsgericht scheitern.

2 Wenn sich Frank Montgomery (SPD), Präsident der Bundesärztekammer, jetzt im Namen der Ärzteschaft für den Griese-Brand-Entwurf ausspricht, lehnt er sich sehr weit aus dem Fenster: Erst 2011 hatte die Bundesärztekammer unter dem besonneneren Präsidenten Jörg-Dietrich Hoppe ihre Position zum ärztlich assistierten Suizid liberalisiert: War bis dahin formuliert worden, dass eine Hilfe zur Selbsttötung dem ärztlichen Ethos widerspreche, so lautet die aktuelle Position: Die Hilfe zum Suizid ist keine genuin ärztliche Aufgabe. Ausdrücklich wurde bei dieser Änderung auf die “verschiedenen und differenzierten individuellen Moralvorstellungen von Ärzten in einer pluralistischen Gesellschaft” verwiesen.

3 Der Antrag stellt die Hilfe zum Suizid nur dann nicht unter Strafe, wenn “Angehörige oder andere dem Suizidwilligen nahestehende Personen” diese durchführen. Damit sind Ärzt_innen, die Betroffene nur kurzzeitig behandeln ausdrücklich nicht erfasst und werden bei Suizidhilfe entgegen Montgomerys Aussage kriminalisiert. Außerdem wären Sterbewillige mit engen Beziehungen zu Ärzt_innen stark priviligiert gegenüber jenen Sterbewilligen ohne derartigen Kontakt.

4 Des Weiteren stellt der Antrag die Hilfe zum Suizid nur dann nicht unter Strafe, wenn die Hilfe nicht “geschäftsmäßig” erfolgt, also nur in Einzelfällen vorkommt. Wo aber beginnt Suizidhilfe “auf Wiederholung angelegt” zu sein? Bei einem Fall pro Jahr? Einem Fall pro Monat? Wer glaubt, dass sich Ärzt_innen bei einem derart ungenauen Paragraf im Strafgesetzbuch noch trauen, Suizidhilfe zu leisten?

5 Palliativmediziner_innen sprechen sich in einer am ehesten repräsentativen Erhebung gegen den ärztlich assistierten Suizid aus. Man sollte ihr jedoch nicht eine zu hohe Relevanz beimessen: Palliativmediziner_innen sehen nur einen Teil der potentiell betroffenen Patient_innen: Jene mit schwersten Schmerzen oder schwerster Atemnot und ähnlichen durch die Palliativmedizin kontrollierbaren Symptomen. Genau jene Menschen aber, die beispielsweise ihre hochgradige Demenz für sich nicht mit einem Leben in Würde vereinbaren können werden durch den Blick der Palliativärzt_innen auf die Suizid-Debatte überhaupt nicht erfasst.

6 Von den Unterzeichner_innen des Antrags wird die Sorge geäußert, dass eine Legalisierung ärztlicher Suizidhilfe ein gesellschaftliches Klima erzeuge, in dem “Alte und Kranke” stärker einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sein könnten, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Diese Sorge muss man ernst nehmen. Jedoch existiert dieser Druck bereits heute, auch hier könnten die entsprechenden Fälle durch ein institutionalisiertes System, in dem Betroffene Ärzt_innen aufsuchen und mit ihnen über ihren Wunsch sprechen, besser erkannt und verhindert werden. Der vorliegende Gesetzentwurf jedoch wird diese Menschen noch stärker in ihren Nöten isolieren als heute.
Auf der anderen Seite wissen wir, dass Morde an älteren Menschen häufig nicht erkannt werden. Es ist jedoch nicht bekannt, dass sich die Unterzeichner_innen des Griese-Brand-Antrages für stärkere Initiativen von Rechtsmedizin, Justiz und Polizei zu ihrer Aufklärung einsetzen würden. Anders als in den USA existieren in Deutschland keine speziellen rechtsmedizinischen Programme zum Erkennen von Morden an SeniorInnen.

7 Es existieren Daten aus Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Oregon, in denen assistierter Suizid und teilweise auch aktive Sterbehilfe erlaubt sind. Diese deuten darauf hin, dass eine Legalisierung ärztlicher Beihilfe zum Suizid, anders als legalisierte aktive Sterbehilfe, nicht zu einem Anstieg durchgeführter Tötungen führt. 

Zum Abschluss verweisen wir hier erneut auf unsere Positionierung zum assistierten Suizid vom 16.10.2014:

Eine institutionalisierte ärztliche Hilfe zum Suizid kann Leiden verhindern und Suiziden vorbeugen

In “Arbeit und Struktur” beschrieb Wolfgang Herrndorf einmal die Situation von Menschen, die sich in dieser Gesellschaft umbringen möchten. Er, der Autor von Romanen wie tschick, wünschte angesichts einer Hirntumor-Diagnose, das eigene Leben beenden zu können, ohne zum Pflegefall zu werden. Er schrieb auf, welches Unverständnis und welche gesellschaftlichen Hürden sich auftun, wenn man diesen Wunsch in dieser, unserer Gesellschaft in sich trägt. Wie man, auf der Suche nach einem humanen Weg aus dem Leben sich in Berliner Hinterhöfen wiederfindet, in denen man eine Pistole kauft. Wie man in diese Illegalität gedrängt wird, weil ÄrztInnen und Apotheken eben nicht helfen können oder wollen. Wie aber auch diese Hürden letztendlich nichts daran ändern, dass der eigene Entschluss zum Beenden des Lebens ausgeführt wird. Für ihn, im letzten Herbst im Alter von 48 Jahren verstorben, waren jene unerträglich, die sich dem Recht auf humanen Suizid in den Weg stellen. Er ahnte nicht, dass nur zwei Jahre nach seinen Zeilen ein deutscher Gesundheitsminister sogar die aktuell wenig liberale Gesetzlage in der Bundesrepublik noch weiter verschärfen wollen würde: Nach Willen von Hermann Gröhe soll die Hilfe zum Suizid durch ÄrztInnen im Strafgesetzbuch verboten werden – sie ist aktuell dort nicht geregelt.

Warum sollte man sich diesem Ansinnen Gröhes in den Weg stellen? Anders als oft argumentiert, ist ein Suizid nicht immer Ergebnis des Versagens von sozialen und medizinischen Strukturen, ein Sterbewunsch ist nicht ausschließlich das Ergebnis von ausräumbaren Ängsten oder psychischer Erkrankung: Nein, wer den Tod herbeisehnt ist nicht zwangsläufig psychisch erkrankt oder weiß nur nicht, dass sein körperliches Leiden durch Palliativmedizin vollumfänglich kontrolliert werden könnte. Vielmehr ist der Wunsch nach Suizid auch oft ein Abwägungsprozess von Menschen, die, mit einer schweren, einschränkenden Krankheit konfrontiert, die eigene Autonomie wahren wollen. Denn während Schmerzen und Atemnot palliativmedizinisch heute meist gut gelindert werden können, gilt dies eben nicht für den Verlust des eigenen Gedächtnisses, für den Verlust der Sprache, für den Ausfall von Sinnesorganen. Für wen diese Fähigkeiten unabdingbar zum eigenen Menschsein gehören, wer ein Leben ohne diese als nicht lebenswert zu sehen vermag, der kann für sich zu dem Schluss kommen, dass ein Leben für ihn unter diesen Umständen nicht mehr lebenswert ist. Das ist legitim, wenn wir die Autonomie des Einzelnen als Gesellschaft hoch werten.

Wie kann man zwischen den unterschiedlichen Beweggründen des Suizidwunsches unterscheiden?

Damit ein Suizid nicht aufgrund behandelbarer Schmerzen oder einer psychischen Erkrankung durchgeführt wird, sollte Hilfe zum Suizid erst erfolgen, wenn die Betroffenen sowohl eine psychiatrische Evaluation als auch ein Gespräch mit zwei unabhängigen PalliativmedizinerInnen geführt haben. Damit ist sichergestellt, dass mehrere ÄrztInnen mit Fachkunde unabhängig voneinander sowohl eine psychische Erkrankung als auch ein unvollständiges Wissen über die Möglichkeiten der palliativmedizinischen Symptomkontrolle ausschließen.

Darf man mit Hilfe zum Suizid Geld verdienen?

Es ist verständlich und auch richtig, kommerziell agierenden Sterbehilfe-Vereinen in dieser Gesellschaft keinen Raum zu geben. Sie werden aber überhaupt erst ermöglicht, weil die ärztliche Beihilfe zum Suizid in eine Grauzone verbannt wird: Während die Hilfe zum Suizid selbst aktuell auch für ÄrztInnen im Strafgesetzbuch nicht geregelt ist, sanktionieren 10 von 17 Landesärztekammern die Hilfe zum Suizid. Wer, wie Hermann Gröhe, sowohl Sterbevereine als auch die ärztliche Hilfe zum Suizid verbieten will, der zwingt Sterbewillige entweder zum relativ teuren Suizidtourismus ins Ausland oder aber in die Illegalität. Dies ist den Betroffenen in ihrer oft ohnehin äußerst schwierigen und belastenden Situation nicht zuzumuten. Eine institutionalisierte Sterbehilfe führt nicht automatisch dazu, dass Suizid “normal” wird. Sie gibt vielmehr jenen Suiziden, die ohnehin durchgeführt werden würden, einen menschlichen Rahmen, der die Betroffenen nicht in die Illegalität zwingt. Durch die Kontrollmechanismen könnten andererseits geplante Suizide aufgrund von psychischen Erkrankungen oder nicht versorgten Symptomen früher erkannt und den Betroffenen geholfen werden. Es existieren Daten aus Belgien, den Niederlanden, der Schweiz und Oregon, in denen assistierter Suizid und teilweise auch aktive Sterbehilfe erlaubt sind. Diese deuten darauf hin, dass eine Legalisierung ärztlicher Beihilfe zum Suizid, anders als legalisierte aktive Sterbehilfe, nicht zu einem Anstieg der realisierten Tötungen führt. 

Welche Folgen hätte der ärztlich assistierte Suizid für gesellschaftliche Normen?

Von den GegnerInnen einer ärztlichen Hilfe zum Suizid wird auch oft die Sorge geäußert, dass eine Legalisierung ärztlicher Suizidhilfe ein gesellschaftliches Klima erzeuge, in dem “Alte und Kranke” stärker einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt wären, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Diese Sorge muss man ernst nehmen. Jedoch könnten auch diese Fälle durch ein institutionalisiertes System besser erkannt und ihnen vorgebeugt werden. Schon heute gibt es darüber hinaus Hinweise, dass eine hohe Dunkelziffer an Morden an älteren Menschen in unserer Gesellschaft existiert, die nach stärkerer Initiative von Rechtsmedizin, Justiz und Polizei verlangt. Anders aber als in den USA existieren hier keine speziellen rechtsmedizinischen Programme zum Erkennen von Mord an SeniorInnen.

Ohne Frage darf keine Ärztin und kein Arzt dazu verpflichtet werden, Beihilfe zum Suizid leisten zu müssen, in Analogie zum Schwangerschaftsabruch. Gleichwohl würden mehr als 30% der ÄrztInnen in Deutschland sich der Hilfe zum Suizid nicht verweigern.

Ärztlich assistierter Suizid nur bei enger Bindung zum Patienten?

Ein “AutorInnenpapier” der Bundestagsabgeordneten Elisabeth Scharfenberg und Harald Terpe versucht, einen Kompromiss zu formulieren: Sie schlagen eine Regelung vor, die ärztliche Beihilfe zum Suizid nur erlaubt, wenn ein enges Verhältnis oder eine enge Beziehung zwischen Sterbewilligem und ÄrztIn gegeben ist. Eine solche Gesetzgebung schüfe jedoch nur neue Grauzonen: ÄrztInnen würden aufgrund der damit unverändert fehlenden Rechtssicherheit die Beihilfe zum Suizid weiterhin verweigern. Außerdem wären Sterbewillige mit engen Beziehungen zu ÄrztInnen unverhältnismäßig stark privilegiert gegenüber jenen Sterbewilligen ohne derartigen Kontakt.

Ein Plädoyer für eine modifizierte Version des Positionspapiers von Carola Reimann, Dagmar Wöhrl, Peter Hintze und Karl Lauterbach

Die ParlamentarierInnengruppe um Carola Reimann wählt einen anderen Ansatz: Hier wird anerkannt, dass viele Menschen das eigene Leben beenden wollen. Wenn man akzeptiert, dass auch die beste palliativmedizinische und psychiatrische Versorgung niemals jeden Suizidwunsch auflösen kann und der Suizid weiterhin straffrei bleiben muss, soll den verbleibenden Suizidwünschen so menschlich wie möglich begegnet werden und sollen die Betroffenen nicht allein gelassen werden. Das schließt ein, dass ihnen legale Möglichkeiten der kompetenten Beratung und Hilfe eröffnet werden. Dies wäre möglich mit einer eindeutigen gesetzliche Regelung der Hilfe zum Suizid durch ÄrztInnen, wie im Papier von Reimann et al. angedacht. Sie befreite ÄrztInnen aus der gesetzlichen Grauzone, die aktuell durch Berufsordnungen einiger Landesärztekammern erzeugt wird. Die ärztliche Hilfe zum Suizid wäre mit wichtigen Auflagen wie Werbeverbot, obligatorischer Zweitbegutachtung und Bedenkzeit belegt. Diese sollten bestenfalls noch dadurch ergänzt werden, dass in die Entscheidung auch jeweils eineN VertreterIn von Psychiatrie und Palliativ- oder Schmerzmedizin eingebunden sein müssen. Damit ließe sich deutlicher ein Suizidwunsch aufgrund von psychiatrischer Erkrankung oder unbehandelten Symptomen ausschließen und den davon Betroffenen besser helfen. Eine derartige Änderung des Status quo ist notwendig, wenn wir als Gesellschaft die Menschen unter uns mit Suizidwunsch nicht allein lassen wollen.

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